Wir sind ein Ideenort; hier kann etwas wachsen. Wir haben viele Ideen, nehmen die Gedanken anderer auf uns lassen sie Wirklichkeit werden. Wir träumen und wagen Kopfstände. Wir denken quer. Wir haben Mut, Träume und Ideen Wirklichkeit werden zu lassen.
(Auszug der Weimarer Erklärung)
Als erfahrene Leiterin der Tagespflege in Magdala hat Ulrike Lehmann nicht nur Jahrzehnte ihres Lebens dem Dienst am Menschen gewidmet, sondern auch innovative Pflegekonzepte wie die Kinaesthetics erfolgreich in ihren Arbeitsalltag integriert. Im Mai 2024 feiert Ulrike Lehmann ihr bemerkenswertes 35-jähriges AWO-Jubiläum. Im Gespräch gewährt sie uns nicht nur spannende Einblicke in persönliche Erfahrungen und Erkenntnisse ihrer langjährigen Mitarbeit, sondern beleuchtet auch ihre Visionen für die Zukunft der Pflege, Weiterbildungsmodelle und das Wohlergehen der Pflegekräfte und Pflegebedürftigen.
Hallo Frau Lehmann. Schön, dass Sie sich heute Zeit für unser kleines Interview nehmen. Im nächsten Monat feiern Sie ein beeindruckendes Jubiläum: 35 Jahre bei der AWO. Was bedeutet diese bevorstehende Meilensteinfeier für Sie?
Frau Lehmann: Ich frage mich, wo die Zeit geblieben ist, jetzt, da ich mir bewusst werde, dass wir von sage und schreibe 35 Jahren reden. Da kann ich noch so viel hin und her rechnen, es bleibt dabei. Das gibt mir Anlass zum Nachdenken, zum Revue passieren lassen, mich auf eine Zeitreise zu begeben.
Da Ihr 35-jähriges Jubiläum kurz bevorsteht, welche Gefühle und Gedanken kommen Ihnen, wenn Sie auf diese lange Zeit zurückblicken?
Frau Lehmann: Ich erinnere mich an viele schöne, beeindruckende, gute und auch schwierige bis traurige Momente, an zahlreiche Menschen, die mich mehr oder minder in meiner Entwicklung begleitet, unterstützt und auch geprägt haben. All das ist für mich mit viel Dankbarkeit verbunden. Und auch wenn es mal nicht leicht war, bedeutete es, sich zu entwickeln. Das ist der Gewinn.
Können Sie uns von Ihren Anfängen bei der AWO erzählen? Was hat Sie damals dazu motiviert, Teil dieser Organisation zu werden?
Frau Lehmann: Alles begann als junge Krankenschwester im Seniorenzentrum „Am Paradies“, welches früher als Feierabendheim bezeichnet wurde. Dort traf man neben hochbetagten und zum Teil schwer pflegebedürftigen Menschen tatsächlich auch auf Seniorinnen und Senioren, die bereits einige Jahre nach ihrem Ausscheiden aus dem Berufsleben einzogen, um nicht alleine zu sein.
Andererseits wohnte auch eine Reihe sehr junger Erwachsener mit körperlichen Beeinträchtigungen dort, denn für sie gab es damals noch keine alternativen Wohnformen. Was hat mich motiviert, Teil dieser Organisation zu werden? Mit einem Augenzwinkern sage ich: die Organisation kam zu mir, denn ich war bereits vor ihr da. Aber natürlich habe ich mich mit der AWO beschäftigt, mit ihrer Geschichte, ihren Zielen und Werten. Ich bin gerne Teil einer Organisation, die sich sozialpolitisch, demokratisch für Menschen einsetzt, einen hohen ethischen Anspruch in ihrem Wirkungsfeld vertritt, Visionen hat und auf Weiterentwicklung und Innovation Wert legt.
Über die Jahre haben Sie sicherlich viele Entwicklungen und Veränderungen miterlebt. Welche Meilensteine waren für Sie besonders bedeutend?
Frau Lehmann: Es waren, wie schon erwähnt, der Übergang aus der damaligen „Zentrale Heimverwaltung“ zur „Arbeiterwohlfahrt - Kreisverband Weimar e.V.“, einige Jahre später der Zusammenschluss der beiden Kreisverbände Jena und Weimar und schließlich die Erweiterung des Verbandsgebietes im UHK in zwei wesentlichen Schritten, zum heutigen Regionalverband Mitte-West-Thüringen e.V. Natürlich habe ich auch zahlreiche Menschen kommen und gehen sehen. Nicht jeder ist dafür gemacht, einer Organisation so lange treu zu bleiben. Und das ist auch gut. Langweilig war es jedoch zu keiner Zeit.
Das glaube ich. Wodurch waren denn die Anfänge bei der AWO geprägt?
Frau Lehmann: Ich sagte schon, es fing im Seniorenzentrum „Am Paradies“ an. Dort lernte ich auch meinen Ehemann kennen, der ein zweiwöchiges Praktikum während seines Zivildienstes im Weimarer Behindertenverband absolvierte. 1999 eröffnete das Pflegezentrum Weimar und dort war ich acht Jahre lang im spezialisierten Bereich für Schwerst-Schädel-Hirnverletzte im Wachkoma, im Dauernachtdienst tätig. Das war eine gute Gelegenheit für unsere beiden Kinder, die noch klein waren, immer da zu sein. So arbeitete einer am Tag und eine in der Nacht. Nach acht Jahren im Dauernachtdienst wechselte ich in den Tagdienst und durfte kurze Zeit später den Bereich leiten. Immer wenn es die Zeit erlaubte, bildete ich mich in meiner Freizeit auf unterschiedlichen Gebieten fort. Eine wichtige, vom Träger unterstützte Weiterbildung wurde allen Kolleg*innen angeboten. Das war der Grundkurs auf dem Gebiet der Kinaesthetics – die Lehre der Bewegungswahrnehmung. Hier fing ich sofort Feuer und es half mir in meinem Verständnis von Bewegung und im Umgang mit Menschen, die wir pflegten. Zusätzlich war ich stellvertretende Einrichtungsleiterin der gesamten Einrichtung, die insgesamt 15 Plätze im spezialisierten Bereich und 61 Plätze für allgemeine Pflege bot, die ich später auch für acht Jahre selbst leitete. Nebenher absolvierte ich die Ausbildung zur Pflegdienstleiterin.
"Ich bin gerne Teil einer Organisation, die sich sozialpolitisch, demokratisch für Menschen einsetzt."
Wie ging es dann weiter?
Frau Lehmann: Als mir nach diesen Jahren bewusst wurde, dass ich mich im Leitungsprozess von meiner eigentlichen Berufung, mit Menschen zu arbeiten, Pflege in der Interaktion zu definieren, entfernt hatte, weil ich viel mehr verwaltete, als mir lieb war, sprach ich mit Frank Albrecht und erhielt die Möglichkeit, im teilstationären Bereich als Leiterin der Tagespflegen in Weimar auch ganz aktiv im Pflege-Betreuungsprozess mitzuwirken. Hier flammte der Wunsch nach einer Vertiefung der Kinaestheticsidee erneut auf und manifestierte sich. Fortan verfolgte ich diese Idee hartnäckig, wobei ich Unterstützung durch die Organisation hatte. Wir teilten uns Zeit und Kosten, denn es gab ein gemeinsames Interesse an diesem Thema.
Und dann kamen Sie nach Magdala?
Frau Lehmann: Ja, genau. Nach weiteren zwei Jahren bekam ich das Angebot, in Magdala, wo eine Immobilie zu einem Pflegehotel umgebaut wurde, als Einrichtungsleiterin zu arbeiten. Bis heute bin ich mit diesem Haus sehr verbunden und hier tätig, durfte ich doch den Umbau mitbegleiten und zwei ganz neue Teams bei ihrer Entstehung und Entwicklung begleiten. Das betraf die Bereiche Kurzzeit- und Tagespflege.
Gab es spezielle Ereignisse oder Begegnungen in Ihrer AWO-Laufbahn, die Sie besonders geprägt haben?
Frau Lehmann: Es gibt unzählige Augenblicke, kurze und lange, die mich tief berührt haben und nicht jeden Tag präsent sind, jedoch in voller Breite abrufbar werden, wenn ich daran denke. Jedes Wirkungsfeld hat mich bewegt, überall gab es zu lernen und ich konnte mich entwickeln. Wir haben verrückte Dinge gemacht…
Zum Beispiel?
Frau Lehmann: Wir sind zum Beispiel mit den Menschen im Wachkoma auf den Weimarer Weihnachtsmarkt gegangen, haben sie auf Decken in eine Wiese gelegt und dabei neben den Pflege- und Betreuungspersonen Unterstützung von allen in- und externen Therapeutinnen erhalten, sonst wäre es gar nicht möglich gewesen. Wir haben mit Kindern der Förderschule eine Projektwoche gestaltet, was mir noch immer und wohl für immer Gänsehaut beschert. Diese Kinder haben eine beispiellose Sozialkompetenz gezeigt, die selbst ihre Betreuerinnen staunen ließ. Hier begegneten sich zwei Personengruppen – Förderkinder und Menschen mit Behinderungen – die von gesellschaftlichen Vorurteilen besetzt sind. Doch im Umgang miteinander spielte das gar keine Rolle. Sie begegneten sich völlig vorbehaltlos und offen, was aus meiner Sicht das Geheimnis ist. In der Tagespflege in der Ettersburger-Straße in Weimar haben wir anlässlich der stattgefundenen Olympischen Spiele 2016 mit unseren Gästen verschiedene sportliche Disziplinen nachgestellt und waren beeindruckt, wie viel Potenzial hierbei zu Tage trat, wie sehr die Gemeinschaft gestärkt wurde, weil sie sich gegenseitig anfeuerten. Alles begann mit der Gestaltung von Bannern, Medaillen und den Olympischen Ringen. Da wurde gebastelt, gemalt, ausgeschnitten, geschrieben und geklebt. Das gesamte Event zog sich über zwei Wochen und lief nach einem Wettkampfplan ab. Am Ende wurden die Kinder des AWO Kindergartens Nordknirpse eingeladen und es gab einen Abschlusswettkampf zwischen Groß und Klein. Anschließend hatten wir alle einen riesen Spaß beim „Wasserbombenwerfen“. Die ausgelassene Freude aller hat uns gezeigt, dass das Angebot genau das richtige war. Die dabei entstandenen Fotos haben sich Gäste und Angehörige noch lange Zeit danach gerne angesehen.
Dies sind nur einzelne Beispiele einer langen Liste, die Seiten füllen würden. In Magdala habe ich erleben dürfen, wie sich eine Einrichtung, die vier Bereiche unter einem Dach vereint, als Ganzes versteht, miteinander agiert und lebt, füreinander sorgt und Spaß hat.
Gab es auch negative Momente?
Frau Lehmann: Ja, leider erinnere ich mich auch an weniger gute Abläufe aus der Zeit des Überganges der beiden Kreisverbände Jena und Weimar. Sie haben mir zahlreiche schlaflose Nächte bereitet. Dabei traten Druck und sehr antiquierte Methoden seitens der Geschäfts- und Bereichsleitung des Weimarer Kreisverbandes besonders deutlich zutage. Das spürte ich sogar sehr persönlich, weil ich einer Vertragsänderung nicht blindlings zustimmen wollte. Umso erleichterter war ich, als ich Frank Albrecht als neuen Geschäftsführer kennenlernte. Mit ihm steuerten wir einen völlig neuen Kurs an. Mit seinem Weitblick, bei dem auch Menschen wie ich eine Chance auf faire Behandlung hatten, erkannte er Potenziale, die den Werten der Organisation dienten.
Ihre Rolle als Leiterin der Tagespflege in Magdala ist von zentraler Bedeutung. Was treibt Sie in dieser Funktion täglich an?
Frau Lehmann: Nun habe ich seit Beginn dieses Jahres die Aufgabe der Tagespflegeleitung zum einen und die Rolle der Kinaesthetics-Trainerin zum anderen übernommen. Die Hauptherausforderung in der Tagespflege liegt darin, immer eine ausreichende Belegung und somit eine auskömmliche wirtschaftliche Situation zu sichern. Zugleich ist es mir ein ganz persönliches Anliegen, die Menschen, die uns hier täglich besuchen, in ihrer Alltagskompetenz zu unterstützen und zu fördern. Ich wünsche mir, dass sie, auch wenn sie schlechte Karten haben, damit so gut es geht spielen lernen, weil wir gemeinsam daran arbeiten, dass ihre Lebensqualität erhalten bleibt und vielleicht sogar wachsen kann.
Kinaesthetics ist ein gutes Stichwort. Sie haben dadurch innovative Ansätze in den Pflegealltag eingeführt. Können Sie erläutern, was Kinaesthetics genau ist und was Sie dazu bewogen hat, diese Methode zu integrieren?
Frau Lehmann: Kinaesthetics beschäftigt sich mit der Frage: “Wie funktioniert ein Mensch, wie funktioniere ich?“ Viele denken jetzt vielleicht: Was ist das für eine Frage? Doch wissen Sie wirklich was genau passiert, wenn Sie vom Stuhl aufstehen? Wohin geht das Gewicht, wie gelingt diese oder auch eine andere Aktivität möglichst anstrengungsarm? Ich möchte einen Beitrag leisten, dem Pflegeberuf das Image von Schwerstarbeit Stück für Stück zu nehmen. Es ist schlimm, wenn wir Menschen pflegen und dabei krank werden. Deshalb ist es wichtig sich so auszurichten, dass wir im Beruf gesund bleiben und die Menschen, mit denen wir arbeiten, in ihrer Selbstwirksamkeit, Autonomie, Sinnerfüllung und Verbundenheit wahrnehmen und unterstützen. Es geht nicht um ein zusätzliches Angebot, sondern darum, bei dem was wir sowieso tun, die Qualität zu steigern. Beispielhaft heißt das: Wir wollen aufhören, Menschen zu bewegen, stattdessen wollen wir sie unterstützen, sich selbst zu bewegen. Das ist bezogen auf die oben genannten Begriffe wie Selbstwirksamkeit… ein integraler Lebensqualitätsprozess, der sich gegenseitig bedingt. Die Erfüllung dieser Grundbedürfnisse gibt uns Pflegenden den Gewinn zurück und neue Impulse entstehen, die die zu Pflegenden erfahren können.
Welche positiven Effekte konnten Sie seit der Einführung der Kinaesthetics auf die Pflegequalität und das Wohlergehen der Pflegebedürftigen feststellen?
Frau Lehmann: Es gibt Menschen, die sich „ihrem Schicksal ergeben“, weil sie und auch ihr Umfeld glauben, dass beispielsweise eine Erkrankung sie unfähig macht, sich in einem bestimmten Bereich selbst zu versorgen. Wenn diese Annahme für alle Beteiligten feststeht, wird der betroffenen Person sehr wahrscheinlich kein Angebot mehr unterbreitet, was die Möglichkeit einschließt, dass sie es doch könnte. In der Folge kommt es zum Kompetenzverlust, beruhend auf Annahmen, nämlich die der betroffenen Person und des Umfeldes. Das ist eine fatale Situation, die die Anzahl an Möglichkeiten in eine Abwärtsspirale steuert, statt in Richtung mehr Möglichkeiten. Hier ist der Ursprung zu suchen und davon ausgehend sind bereits kleine und große Wunder entstanden. Die Individualentwicklung des Menschen ist ein wichtiges Forschungsgebiet, mit der sich Kinaesthetics beschäftigt.
Sie sind auch in der Weiterbildung von Pflegekräften tätig. Wie wichtig ist Ihnen diese Aufgabe und wie reagieren die Pflegekräfte auf die Schulungen in Kinaesthetics?
Frau Lehmann: Ich durfte in den Kursen sehr interessierte, engagierte und mit einem hohen Wertesystem ausgerichtete Menschen aus unterschiedlichen Pflege- und Betreuungsbereichen erleben, die mich zutiefst beeindruckt haben. Und bei aller Sorge um die Zukunft der Pflege zeigt sich, was es für unglaubliche Schätze in unseren Reihen gibt. Ich habe das große Glück, sie kennenzulernen und mit ihnen arbeiten zu können – eine schöne Aufgabe, wie ich finde. Natürlich gibt es auch Teilnehmende, die etwas zurückhaltender und vorsichtiger sind, sich nicht gleich vorstellen können, wie die Umsetzung in ihrem Arbeitsumfeld konkret mit besonders herausfordernden Krankheitsbildern aussehen kann. Doch hier soll das Prinzip gelten, die Kolleg*innen nicht alleine zu lassen, sondern die Schulungen breit aufzustellen, so dass alle die gleiche Bildungsvoraussetzung auf dem Gebiet haben und sich unterstützen können. Zudem kann ich als Trainerin in die Praxis zu konkreten Fragestellungen und Beobachtungen geholt werden.
"Ich durfte in den Kursen sehr interessierte, engagierte und mit einem hohen Wertesystemausgerichtete Menschen [...] erleben, die mich zutiefst beeindruckt haben."
Eine letzte Frage habe ich noch: Ihr 35-jähriges Jubiläum steht nun unmittelbar bevor. Welche Ziele und Visionen haben Sie für die Zukunft, sowohl für sich persönlich als auch für die Tagespflege in Magdala?
Frau Lehmann: Ich träume über die Tagespflege und vielleicht sogar über die Organisation hinaus, im Kern von einer Pflege und Betreuung, in der Menschen sich entwickeln und lernen können, kompetent miteinander umgehen, wo mit Freude und Engagement die Anzahl der Möglichkeiten für alle Beteiligten wächst, wo Verantwortung für die eigene Entwicklung ein Bedürfnis ist.
Wir danken Ihnen an dieser Stelle für Ihren unermüdlichen Einsatz bei der AWO. Ihr Engagement und Ihre Innovationen haben unzähligen Menschen geholfen und sie inspiriert. Für die Zukunft wünschen wir Ihnen weiterhin alles Gute, vor allem Gesundheit, Freude und weiterhin viel Erfolg, privat wie beruflich. Herzlichen Dank für das Gespräch.
Frau Lehmann: Vielen Dank!
Das Interview führte Stefanie Kreißl
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